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Westdeutsche Großstadtkinos 1962


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Geschrieben

Filmhistorische Forschung beschäftigt sich meistens ja mit der Deutung »historischer« Filme. Die Frage, an welchen Orten und unter welchen technischen Bedingungen Filme vorgeführt wurden, ist dahinter eher zurückgetreten. Soweit Filmtheatern als solchen überhaupt Aufmerksamkeit gewidmet wurde, dann unter architektonischen Gesichtspunkten womit schon wieder eine Verengung des Betrachtungsaspekts vornehmlich auf »Filmpaläste« vorgenommen wurde.

Dabei ist es seit der digitalen Verfügbarkeit der (westdeutschen) Kino-Branchenadressbücher wesentlich leichter geworden, Informationen über die Kinolandschaft vergangener Zeiten zu gewinnen. Das setzt allerdings voraus, entsprechende Auswertungs-Routinen zu entwerfen, die den (gelegentlich etwas unsystematischen) Datenbestand digitalisierter Adressbücher in eine systematische Tabellenanordnung übernehmen, die sich anschließend mit den üblichen statistischen Mitteln aufbereiten lässt - anstelle von Strichlisten, durchwachten Nächten und hoher Fehleranfälligkeit. Die Text-Formeln eines beliebigen Tabellenkalkulations-Programms können richtig hilfreich sein. Die verwendeten Formeln sind übrigens im Anhang dokumentiert.

Allerdings:

  • Die Kino-Adressbücher gab es in einer hier interessierenden, vernünftigen (d.h. insbesondere detaillierte technische Daten umfassenden) Form nur bis einschließlich 1962 und nur für Westdeutschland, und

  • die in den Adressbüchern zusammengefassten Daten beruhten auf Selbstauskünften der Betreiber. Ob sie stimmig sind, ob da nicht gelegentlich zu eigenen Gunsten geflunkert oder aus Unkenntnis über den Maschinenpark unzutreffende Angaben gemacht wurden keiner wird das im Einzelfalle aufklären können. Was immer aber für das einzelne Kino als Angabe falsch gewesen sein mag in der summarischen Zusammenfassung für siebzig, achtzig oder mehr Kinos an einem einzelnen Kinostandort wird gleichwohl ein relativ zuverlässiges Bild über die Vorführbedingungen verflossener Zeiten.

In der anhängenden Datei sind die Kino-Adressbücher des Jahres 1962 für die zwölf westdeutschen Großstädte mit (seinerzeit) mehr als 500.000 Einwohnern ausgewertet plus Nürnberg, das nahe an der Grenze zu einer halben Million lag. Die Auswertung ist weitgehend selbsterläuternd. Gleichwohl mögen einige Hinweise hilfreich erscheinen, um sich in das Material einzulesen (siehe für einen Überblick insbesondere S. 55 mit der Gesamtauswertung):

  • Die Auswertung der dreizehn Städte erfasst 11,4 Millionen Einwohner. Westdeutschland hatte 1962 57,2 Millionen Einwohner. Damit gibt die Auswertung Auskunft über die Kinosituation von einem Fünftel der westdeutschen Gesamtbevölkerung.

  • Insgesamt sind 1.065 Bildwände nachgewiesen mit 536.000 Sitzplätzen. Für jeweils 1.000 Einwohner standen damit 48 Sitzplätze zur Verfügung, oder andersherum: Jeweils 21 Einwohner haben sich im Durchschnitt einen Sitzplatz geteilt. Die Spannbreite zwischen den betrachteten Großstädten ist nicht wahnsinnig groß; ein einzig echter Ausreißer ist Dortmund, wo es fast 58 Sitzplätze je 1.000 Einwohner gab. In Nürnberg waren es dafür nur 42.

  • Im Durchschnitt hatten die Kinos ziemlich genau 520 Plätze. Auch hier sind die Abweichungen zwischen den Standorten nicht wirklich aufregend. Lediglich Duisburg fiel mit 620 Plätzen aus dem Rahmen.

  • Es gab noch eine riesige Zahl von Großkinos mit mehr als 800 Plätzen 122 der 1.065 der nachgewiesenen Filmtheater, also fast 12 %. In der Spitze ging das bis zu 2.000 Plätzen (vorübergehende Spielstätten wie den Berliner Sportpalast oder die Gruga-Halle in Essen dabei mal ganz ausgenommen).

  • Ein gutes Drittel der Theater (36,7 %) spielte mit Becklicht. Ein Viertel (25,8 %) war bereits auf Xenon umgestellt, mit Reinkohle spielten den Angaben zufolge lediglich noch knapp 17 %. Die Philips-Impulslampe war mit 1 % (12 Theater) mengenmäßig kaum wahrnehmbar. Überraschend jedoch die hohe Zahl der Nicht-Angaben (fast 20 %); über die Motive darf man spekulieren (und die entsprechenden Theater wohl vornehmlich im Lager der Reinkohlen-Spieler vermuten). Regionale Abweichungen bei der Xenon-Einführung sind übrigens überdeutlich: In Stuttgart war 1962 schon die Hälfte der Theater umgestellt, in Bremen nur 15 %.

  • CS konnten den Angaben zufolge gut 90 % der Kinos spielen. Irgendwie lässt mich bei Sichtung des Quellmaterials allerdings der Gedanke nicht los, dass diese Zahl leicht fehlerbehaftet sein könnte und die tatsächliche Quote eher noch höher lag.

  • Rund ein Viertel aller Großstadtkinos (25,4 %) waren mit Magnetton-Wiedergabe ausgestattet. In der regionalen Verteilung war die Schwankungsbreite nicht ganz unbeachtlich und lag zwischen 37,5 % (Nürnberg) und 15,3 % (Dortmund). Gleichwohl: An unzureichenden Abspielmöglichkeiten lag es offenkundig nicht, wenn dem vierkanaligen Magnetton auf 35mm nur eine kurze Blütezeit beschieden war. Die Angaben für das Perspecta-Verfahren sind leider arg unzuverlässig, wie ein Vergleich unter verschiedenen Jahrgängen der Adressbücher gezeigt hat, und wurden deshalb nicht ausgewertet.

  • 34 Kinos waren für 70 mm eingerichtet, angeblich zwölf für Cinerama/Cinemiracle. Die erstgenannte Angabe lässt sich anhand der Angaben zu den Projektoren (DP 70, Bauer U2, Fedi) in etwa plausibilisieren, bei der zweiten wurde aber wohl heftigst geflunkert. Oder mag irgendjemand daran glauben, dass in Nürnberg zeitgleich drei Theater Cinerama/Cinemiracle spielten? Da versuchten sich wohl die Inhaber gegenseitig auf dem Papier zu übertrumpfen. (An anderer Stelle nachgewiesen ist lediglich das Delphi: http://cinerama.topc...amatheatres.htm). Für Berlin reklamierte auch der Titania-Palast das Cinerama-Attribut, wo meines Wissens nie ein Dreistreifen-Film zur Aufführung gelangte. Das Regina in Bremen andererseits erscheint nur mit einer einfachen Vier-Kanal-Installation (und Bauer B 12) – hier gibt es weder einen Hinweis auf Cinerama/Cinemiracle noch auf 70mm.

 

Und schließlich: Die Kinoprojektoren:

  • Ernemann führte mit 35,0 % der Spielstätten. Bauer kommt erst auf den zweiten Platz mit 27,9 %. Philips als drittplazierter hält 13,5 %. Vierter ist Frieseke & Höpfner mit 8,2 %. Die Askania AP XII liegt dann gerade noch bei der Hälfte der F&H: 4,4 %. Was danach kommt, ist vorwiegend Vorkriegs-Altmaterial (AEG, Nitzsche Matador, Erko, Ernon, Hahn-Goerz). (Leider ist bei Bauer und Ernemann nicht mehr verlässlich feststellbar, wie hoch hier der jeweilige Vorkriegs-Anteil war.) Kinoton wird man in dieser Auflistung vergeblich suchen; die Serienfertigung von Projektoren begann erst zehn Jahre später (1972), nachdem Philips die Fertigung von Kinoprojektoren eingestellt hatte.

  • Cinemeccanica war 1962 ebenfalls noch kein Begriff: Gerade zwei Standorte sind nachgewiesen.

  • Eine Gaumont Kalee hatte sich nach Hamburg verirrt (britische Zone), eine Century nach München (amerikanische Zone). Und eine 16mm Debrie gab es, ebenfalls in München.

  • Manche Standorte waren den Angaben zufolge schon komplett mit Nachkriegs-Neumaterial bestückt man schaue sich nur Nürnberg an. Eine VII B sucht man da vergebens. Absolut museal kam dagegen die Kino-Landschaft in Berlin daher. Vorkriegs-Vielfalt sondergleichen!

  • »Hauptstadt« der Bauer-Maschinen war natürlich Stuttgart (Marktanteil 51,9 %); Hannover kam gleich hinterher mit 48,0 %. Gegenstück dazu war Nürnberg mit 52,5 % Ernemann, gefolgt von Duisburg (43,6 %). Frieseke & Höpfner war in Duisburg besonders stark (40,0 %). Das belegt wahrscheinlich recht gut die These: Es waren letztlich die örtlichen Kinotechnik-Vertretungen (und ihr Ruf), die den regionalen Marktanteil entscheidend bestimmten.

 

Zum Schluss: Nur allzugern hätte ich Inhaltsverzeichnis und Inhalt miteinander verlinkt, aber die gesetzten Links gingen leider bei der Umwandlung in eine pdf-Datei verloren. Insoweit muss es bei einer gewissen Unvollkommenheit bleiben! Ebenso, was die fehlenden Seitenzahlen betrifft.

Abschließend einen großen Dank, dass das Kino-Wiki die Originaldaten in auswertbarer Form im Internet bereitstellt!

Auswertung Kinos 1962 Grosstaedte.pdf

Geschrieben

Hallo Sam, vielen Dank für die interessante Aufstellung und die Mühe die hier drin steckt. (Natürlich auch für die Formeln am Ende.) :grin:

 

Nun wäre noch eine Aufstellung der Kinos und Wanderkinos in der ehemaligen DDR interessant, aber das ist wohl eine nicht zu leistende Sisyphusarbeit, da es ein Branchenadressbuch dort damals nicht gab. Und Unterlagen der Bezirksfilmdirektionen hierzu (wenn überhaupt) nicht mehr komplett verfügbar sind. :angry:

Geschrieben

Enorme Fleissarbeit, alles in Excel zu übertragen.

Aber dann wäre bei den anderen Jahrgängen noch etwas zu tun?

@Peter2: das mit den Kinos der BFD ist ausgesprochen ärgerlich hinsichtlich der Quellen- und Archivlage. Selbst in Berlin komme ich da kaum weiter mit den Fundsachen, Fotos und Verzeichnissen. Dürfte in den GUS-Staaten kaum anders sein, wo man es gar nicht eilig genug hatte, alles zu "beräumen". :|

Geschrieben

Danke, SAM! Man müßte Dir einen Orden für diese Fleißarbeit verleihen!

Obwohl ich gestern nacht müde von der Arbeit nachhause kam, lud ich mir die pdf-Datei sofort auf den Rechner und ging sie länger begeistert durch.

 

Kinoadreßbücher gibt es spätestens seit den 20ern - da hätte man noch viel zu tun, das alles in Excel zu übertragen. Ich besitze leider keine, sah mir aber in der Bibliothek des Filmmuseums in Frankfurt öfter welche an. Allen voran das von 1955, damals gingen die Westdeutschen am häufigsten ins Kino. Die Kinoadreßbücher der 50er nennen weitaus mehr Daten: ob CinemaScope gespielt werden konnte, ob in 1:2,55 oder 1:2,35, ob es Perspecta-Anlagen gab, Diaprojektoren, Bühnenmaße etc.

Ich hatte mir das mal durchgängig für meine Geburtsstadt Offenbach zusammengestellt mit allen verfügbaren Kinoadreßbüchern von den 20ern bis 62, ergänzt um andere Literatur.

 

Über mehrere deutsche Städte gibt es Kinoliteratur, aber diese Mühe einer Übersicht über alle Kinos mit Platzzahlen und Adressen etc. haben sich die meisten leider nicht mal für ihren Ort gemacht. Soweit ich meine Sammlung an Kinobüchern überschaue gibt genauere Angaben der Spielstätten umfassend nur zu Berlin, Hamburg und Frankfurt. In vielen anderen Büchern über lokale Kinogeschichte dominieren diverse Artikel über Filmgeschichte, erst dann kommt ein bißchen Kinogeschichte und solche Details wie oben werden vernachlässigt. Das macht eben viel Arbeit!

 

Die Daten in den Kinoadreßbüchern sind Selbstauskünfte, daher manchmal geschönt. Ich weiß es zumindest bei einigen Frankfurter Kinos, daß dort die Platzzahlen aufgerundet wurden. METRO IM SCHWAN hatte in den 80ern noch mit Rang rund 900 Plätze, das konnte man früher sogar auf dem Sitzplan im Foyer sehen! Ein herrlicher ovaler Kinosaal mit heller Holztäfelung im 50er Stil; leider zugunsten eines Buchkaufhauses vollends zerstört. Wo da 1150 Plätze hingepaßt hätten ist mir unerklärlich. Die Bestuhlung war in den 80ern noch traditionell eng (~83cm Reihenabstand). Also hätte es nach der Angabe von 1150 Plätzen rund 10 Reihen mehr haben müssen, was weder auf dem Rang noch im Parkett möglich gewesen wäre. Vielleicht war der Entwurf des Architekten ursprünglich großzügiger bemessen. Ähnlich verhält es sich bei den Platzzahlen zum Europa-Palast und dem Scala in der Schäfergasse. Vergleicht man hier die Angaben in den Kinoadreßbüchern über die Jahre, bemerkt man manchmal auffällige Korrekturen solcher Selbstauskünfte.

 

Daß es in Nürnberger zeitgleich 3 Cinerama/Cinemiracle-Kinos gab, finde ich auch verwunderlich. 3x Cinerama (das echte 3-Streifen-System) gab es nur in London, aber auch nur wenige Jahre, nämlich als MGM und Cinerama die beiden Cinerama-Spielfilme herausbrachten: CASINO, COLISEUM, ROYALTY. Vorher lief in einem anderen Kino auch Cinemiracle (PARAMOUNT). Eine Erklärung findet sich bei Zeitzeugen: Im Thread zu Stuttgarter ATRIUM in diesem Forum, aber auch auf der Webseite des Bremer REGINA (auch so eine Fleißarbeit, die ich eigentlich gern in Buchform hätte!) läßt sich zumindest nachlesen, daß in manchen Kinos die 3-Streifen-Format-Projektoren nur leihweise und temporär waren. Das gilt auch für den Sportpalast und ist nachlesbar. Hier wäre es auch mal interessant zu wissen mit wieviel Kopien damals Großformate wie 3-Streifen-Cinerama und auch Todd-AO in Deutschland wann gelaufen sind.

Geschrieben

In der Tat, die Jungs (und Mädels?) vom Kinowiki machen einen richtig guten Job, indem sie nicht nur den Inhalt der Branchenadressbücher digitalisieren und ins Netz stellen, sondern gleich auch nach Städten und Bundesländern systematisieren. Für München etwa findet man diese Übersicht

 

http://allekinos.pyt...in_M%C3%BCnchen

 

in der (fast) jedes Kino wiederum mit seinen Detail-Informationen aus den verschiedensten Jahrgängen verlinkt ist - oft noch ergänzt mit Fotos und weiteren Texten. Gleich für das allererste Kino der Münchner Liste, das ABC-Kino in Schwabing, findet man hier die (komplette) Historie:

 

http://allekinos.pyt...-Kino_Schwabing

 

Ach ja, Entwarnung zu meiner eigenen Auswertung. Fleißarbeit war was weniger - den ganzen Rohdatensatz einer Stadt auf einmal in eine leere Excel-Tabelle kopieren, Leerzeilen 'rauswerfen und in den Auswertungsspalten die Formeln durchziehen - das ist nicht das Thema (und in weniger als fünf Minuten gemacht). Was dann aber doch etwas aufwendig ist, ist das (notwendigerweise) manuelle Durchflöhen der Rohdaten, vornehmlich auf richtig oder falsch gesetzte (oder beim Scannen erkannte) Kommata. Weil, wenn ich wüsste, der längste Name der vorkommenden Projektorenhersteller hat acht Buchstaben, dann könnte ich aus der entsprechenden Auswertung alles 'rauswerfen, was nach dem achten Buchstaben kommt. Es gibt aber eben auch solche Angaben wie "2 x Bauer U2 u. 1 x Ernemann X", und das passt in kein Raster. Also hilft es nichts, es wird ausgewertet, bis das nächste Komma kommt - und das kommt manchmal zu früh ("2 x Bauer U 2, 1 x Ernemann X") oder zu spät, so dass einem auch der Bestimmungsbahnhof oder der Name des Geschäftsführers in die Projektorenspalte rutscht. - Ich gebe zu: Die Formeln zu entwickeln war nicht-trivial, aber irgendwie spannend ...

 

Tja, und die Anzahl der Plätze. Erinnert mich an das Geständnis von Robert Endres, dem ehemaligen Chefvorführer der New Yorker Radio City Music Hall (in seinem Post vom 16. April 2010):

 

"In a sense everybody may be right, since the seat count at the Hall frequently changes. When I first started learning about the Hall when I was in Illinois, it was listed as having 6,200 seats. Fred Kellers, who was a Vice President of House Operations told me that Roxy wanted to claim that the Hall had more seats than his former venue the Roxy. Thus, they counted even the toilets as “seats” along with the furniture in the lobby."

 

http://cinematreasur...#comment-405403

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